Der Politiker in Uniform, umringt von Menschen
Bildrechte: Iwan Nojabrew/TASS/Picture Alliance

Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow

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"Fangt an zu beten": Putins Vize-Verteidigungsminister verhaftet

Russische Militärblogger sind außer sich, Politologen rätseln, Exil-Medien verweisen auf den luxuriösen Lebensstil des Politikers: Völlig überraschend wurde Timur Iwanow wegen Korruptionsverdachts festgenommen: "Byzanz in seiner schlimmsten Form."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

Russlands Medien sind sich noch nicht einig, ob hier eine Seifenoper oder ein Polit-Drama gegeben wird. Von einem "politischen Erdbeben" war ebenso die Rede wie von einem "Clan-Kampf nach den Gesetzen des Dschungels": Die Sicherheitsbehörden haben den russischen Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow wegen des Verdachts der "Bestechung in besonders großem Umfang" festgenommen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Tass meldete. Dort war auch zu lesen, dass der Beschuldigte in diesem Fall mindestens eine Million Rubel veruntreut haben müsse, umgerechnet rund 10.000 Euro. Präsident Wladimir Putin und Verteidigungsminister Sergei Schoigu seien darüber "informiert" worden, hieß es.

Iwanow selbst bekannte sich bei einer gerichtlichen Vernehmung als "nicht schuldig". Die genaue Höhe des von ihm angeblich verursachten Schadens wurde nicht beziffert, weil die Ermittlungen noch andauerten. Russische Journalisten zeigten sich verwundert, dass Iwanow dem Haftrichter in Uniform vorgeführt wurde, weil es bisher die inoffizielle Weisung gegeben habe, Bilder von angeklagten hochrangigen Soldaten zu vermeiden. Zwar ist Iwanow Zivilist, aber seine besternte Uniform eines "Staatsrats 1. Klasse" sehe der eines Generals "lächerlich ähnlich", so Blogger: "Die Tatsache, dass er diese Uniform trägt, zeigt wirklich, dass ihm direkt bei der Arbeit Handschellen angelegt wurden."

Dass der Politiker bereits morgens um neun für zwei Monate in U-Haft geschickt wurde, deute darauf hin, dass die Geheimdienste eventuellen Gönnern und Freunden des Vize-Ministers keine Zeit zur Intervention geben wollten.

"Treten Sie nicht länger für ihn ein"

Der Vorfall löste umgehend wilde Spekulationen und eine angeregte Debatte unter russischen Beobachtern aus. Der kremlnahe Politologe Sergej Markow nannte fünf mögliche Gründe für die Festsetzung von Iwanow, der für Militärbauten zuständig war. Möglicherweise gebe es einen Machtkampf im Kreml, oder der Vize-Verteidigungsminister habe jedes Maß verloren. Vielleicht habe der Kreml der Rüstungsbranche auch ein "Signal" geben wollen, weil die dortige Korruption allgemein bekannt sei. Außerdem reisten die Ex-Frau und die Kinder von Iwanow häufig ins westliche Ausland, zum Unmut der politischen Spitze. Denkbar sei auch, dass Iwanow "in flagranti" erwischt worden sei.

Markow selbst neigt nach eigenen Worten zur Vermutung, wonach der Kreml der Rüstungswirtschaft einen Wink geben wollte. Er verwies auf die Formulierung von einer Tat "in besonders großem Umfang": "Das heißt, die Behörden dokumentieren Folgendes: Der stellvertretende Minister hat nicht nur ein Verbrechen, sondern ein schweres Verbrechen begangen. Ein Signal an alle: Treten Sie nicht länger für ihn ein."

Sucht Putin nach "Schuldigen"?

Einer der Beobachter ging deutlich weiter: "Auch eine mögliche militärische Verschwörung kann nicht ausgeschlossen werden, da, wie zutreffend festgestellt wird, nur sehr wenige hochrangige Beamte tatsächlich für Diebstahl und Bestechung bestraft werden. Aber irgendetwas sagt uns, dass der Moment nahe zu sein scheint, in dem Wladimir Putin gezwungen sein wird, zu bestimmen (und Namen zu nennen), welche der russischen Militärs für das Scheitern der Spezialoperation verantwortlich sind. Nun ja, einer der offensichtlichsten Kandidaten für die oben genannte Strafe ist natürlich Herr Schoigu, der offensichtlich nicht 'belästigt' werden möchte und trotzdem die 'Zähne zusammenbeißen' muss."

"Jetzt sind die Zeiten humaner"

Exil-Politologe Anatoli Nesmijan hält Iwanows Festnahme für "trivial". Er spekulierte, Verteidigungsminister Schoigu selbst solle demnächst ersetzt werden, jetzt hätten die Aufräumarbeiten begonnen, um einem möglichen Nachfolger das Ministerium "besenrein" zu übergeben: "Das ist Byzanz in seiner schlimmsten Form. Jetzt sind die Zeiten humaner, daher ist es nicht mehr üblich, Höflinge einzumauern, die eine Veruntreuung begangen haben. Sie werden sie einfach wegsperren und die unbezahlbaren gestohlenen Waren einkassieren."

"Fangen wir an, zu beten", schrieb einer der wichtigsten Militärblogger. Ein anderer postete: "Hurra, was bleibt da noch zu sagen." Ein weiterer erinnerte daran [externer Link], dass Iwanow gewiss nicht wegen Korruption verfolgt werde, weil die alle führenden Politiker betreffe. Die erste Stellungnahme des Kremls sei "verwirrend", womöglich sei Putin sogar erst nachträglich informiert worden: "Was wäre, wenn wir es tatsächlich mit einer Art Verschwörung zu tun hätten? Eine Verschwörung der Generäle, wie in den dreißiger Jahren unter Stalin. Sie sagen auch, dass in den Fall noch andere Personen verwickelt sind, wahrscheinlich auch Generäle. Das wird die Legitimität des noch nicht in sein Amt (wieder)eingeführten Präsidenten untergraben, und es wird abermals die Armee diskreditieren, und warum wird unseren Feinden ein Grund gegeben, am Zusammenhalt unserer Reihen zu zweifeln?"

"Hier ist Schoigu machtlos"

Ob jetzt auch Verteidigungsminister Schoigus Position erschüttert ist, darüber gehen die Meinungen der Beobachter auseinander: "Ich glaube nicht, dass Schoigu durch irgendetwas bedroht wird. Ja, Iwanow gehört zu seinem engsten Kreis. Aber der Kerl hat wirklich einen Fehler gemacht. In diesen Zeiten sollte sich der stellvertretende Verteidigungsminister in der Frontzone aufhalten und nicht bei gesellschaftlichen Empfängen und noch dazu vor Kameras herumtreiben. Hier ist Schoigu machtlos."

Dagegen urteilte der Exil-Politologe Abbas Galljamow [externer Link]: "Iwanow ist einer der Menschen, die Schoigu am nächsten stehen. Seine Verhaftung am Vorabend der Ernennung einer neuen Regierung deutet darauf hin, dass die Chancen des derzeitigen Ministers, im Amt zu bleiben, stark sinken. Auf jeden Fall hielt [der Sekretär des Sicherheitsrats] Patruschew es für möglich, ihm einen Schlag zu verpassen." Galljamow vermutet, dass die russischen Geheimdienste ohnehin auf die Militärs schlecht zu sprechen seien: "Darüber hinaus könnte auch die Entscheidung der Amerikaner, ein weiteres Hilfspaket für die Ukraine bereitzustellen, eine Rolle gespielt haben. Angesichts der Ereignisse könnte Putin entschieden haben, dass es unmöglich ist, so ineffektiv weiterzukämpfen wie zuvor, was bedeutet, dass die derzeitige Führung des Verteidigungsministeriums verändert werden muss."

"Freude ist unvollständig"

Über die Reaktionen bei Militärbloggern war zu lesen: "Dem Jubel auf [dem sozialen Netzwerk] Telegram nach zu urteilen, kommt die Verhaftung des stellvertretenden Verteidigungsministers der Einnahme einer mittelgroßen ukrainischen Stadt gleich. Aber es gibt noch größere Städte." Blogger Oleg Sarew (290.000 Fans) schrieb ironisch [externer Link]: "Toller Mann. Mit seiner Verhaftung bescherte er so vielen Menschen einen Feiertag. Es ist nicht überraschend, weil keiner seiner Bekannten mir in Gesprächen hinter den Kulissen irgendetwas Gutes über ihn erzählt hat. Niemand und nichts. Niemand. An der Front jubeln sie, als ob ein großes besiedeltes Gebiet eingenommen worden wäre. Aber die Freude ist unvollständig, sie warten auf die Fortsetzung und was wäre, wenn...[Schoigu entmachtet würde]."

Der rechtsextreme Blogger Igor Skurlatow (360.000 Follower) freute sich, es gebe in Russland jetzt "keine Kaste der Unberührbaren" mehr, das sei "ermutigend": "Der Oberbefehlshaber wird entscheiden. Bald. Wir akzeptieren jede Entscheidung. Wir befürworten alles, was dem Sieg dient und mit Zustimmung des Oberbefehlshabers geschieht. Das macht unsere Stärke aus, unsere Einheit."

Das Schweigen der Behörden unmittelbar nach der Eilmeldung wurde von einem Blogger mit der Bemerkung kritisiert: "Eine solche Sendepause ermöglicht es westlichen Medien und ukrainischen Sendern, das Thema der angeblich massiven Korruption in der russischen Armee schnell breitzutreten. Und die negative Einstellung gegenüber Schoigu. Die Informationspolitik bleibt komplett zum Zerreißen angespannt. Doch alle Institutionen der russischen Regierung schweigen stoisch."

"Ohrringe im Wert von zwei Panzern"

Russische Exil-Medien verwiesen darauf, dass Iwanow, der seit 2016 Vize-Verteidigungsminister ist, seit Jahren mit einem extravaganten und luxuriösen Lebensstil den Unmut von Militärs und Journalisten auf sich gezogen habe. Er habe seine Frau mit teuren Geschenken wie Sportwagen und Yachten "überschüttet", schreibt das gewöhnlich gut informierte News-Portal "Agents". Das Recherche-Team des verstorbenen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny hatte sich intensiv mit dem umfangreichen Immobilienbesitz von Iwanow beschäftigt [externer Link].

Russische Leser amüsierten sich über Anekdoten "aus dem Leben unserer Schlangenfarm": "Anscheinend hat Iwanow die Gelder nicht seinem Rang entsprechend angenommen." Eine Unterschlagung von nur einer Million Rubel sei für Iwanows Ebene "lächerlich": "Das bedeutet, das irgendetwas schiefgelaufen ist." Seine Frau trage "Ohrringe im Wert von zwei Panzern", spottete jemand, nur sei das offenbar bisher noch niemandem aufgefallen. "Was für ein böser Junge, klaut das Geld vom Papa", schrieb einer der Netz-Kommentatoren. Ein weiterer sah eine skurrile "Personalrotation" im Gange: "Wenn Sie gegessen haben, entfernen Sie sich vom Tisch und überlassen Sie anderen ihren Platz."

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